Diskussion: Eine politische Geschichte der Oper in Wien 1869-1955

Susanne Kogler: "Herrn Glanz nochmals herzlichen Dank für diesen Einblick in ein wirklich interessantes Projekt. Das ist natürlich jetzt nicht der Endbericht, der ist online nachzulesen, aber vielleicht darf ich trotzdem fragen, ob Sie kurz skizzieren könnten, welche generellen Tendenzen sich über die einzelnen Phasen hinweg im Hinblick auf das Verhältnis von Musik und Politik abzeichnen. Welches Fazit würden Sie hier aus Ihrem Projekt ziehen?"

Christian Glanz: "Wie schon gesagt: es ist wirklich sehr schwer (auch „überraschend“ schwer), hier tragfähige „generelle“ Tendenzen auszumachen; „überraschend“ bezieht sich darauf, dass wir vor Beginn des Projekts „erwartet“ hatten, dass das Oper-Politik-Verhältnis ein „direkteres“ sein würde. Was man aber jedenfalls meiner Meinung nach sagen kann:

  • Ein direkt auftretendes und nachdrücklich umgesetztes „Staatsinteresse“ im Sinn von unmittelbarem Eingreifen in Spielplan, Besetzung und andere Parameter ist in „Ausnahmesituationen“ feststellbar (im Rahmen unserer Forschungen am Auffälligsten im Zuge der Eingliederung in den NS-Staat).
  • Gleichzeitig sind Teile der „öffentlichen Meinung“ den gesamten Beobachtungs- / Forschungszeitraum hindurch dazu bereit gewesen, politische Aspekte in die Berichterstattung zum Thema Oper einfließen zu lassen; je nach Standort der Zeitungen (mit Pressequellen hatten wir es vorrangig zu tun) ist die politische Implikation dabei durchaus auch als „Hauptinteresse“ erkennbar, die Oper sozusagen nur der „Schauplatz“.
  • „Über die einzelnen Phasen hinweg“ zeigt sich auch, dass es ein grundsätzliches „übergeordnetes“ Interesse am Betrieb eines repräsentativen Opernhauses immer gegeben hat, das auch in Krisen grundsätzlich nicht in Frage gestellt wurde.

 

Susanne Kogler: "Besonders interessiert mich auch die Frage, inwieweit das Verhältnis von Musik und Politik den Kanon berührt. Sie haben ja bei der Auswahl der Werke explizit angeführt, sich nicht am traditionellen Kanon zu orientieren, sondern eben an besonders aussagekräftigen Werken. Wie politisch oder unpolitisch ist nun der Kanon?"

Christian Glanz: "Wenn ich die Frage richtig verstanden habe, dann kann ich dazu sagen, dass sich im Zuge unserer Forschungen eben kein grundsätzlicher Unterschied zwischen Kanon (also z.B. Wagner) und „Nebenwerken“ /also z.B. „Dalibor“) im „Grad der Politisierung“ zeigt; es scheint ausschließlich vom jeweils konkreten politischen Umfeld abhängig zu sein, bestimmten Werken mehr oder weniger konkrete Implikationen zuzuordnen / politische Argumente auf Werke „anzuwenden“. Aber auch hier ist die Differenzierung zu betonen: auch der „Dalibor“ wurde nicht einmal 1897 durchgehend politisch rezipiert!"

Susanne Kogler: "Und schließlich würde mich auch interessieren, inwieweit die Projektergebnisse den Fachdiskurs zu Musik und Politik widerspiegeln oder ob sich hier doch grundlegende Differenzen ergeben zu dem, was gemeinhin thematisiert wird, wenn man solche historische Phasen miteinander vergleicht."

Christian Glanz: "Ja, da scheint mir wirklich klar aus unseren Forschungen hervorzugehen, dass die in der zeitgeschichtlichen Forschung allgemein ohnehin in den letzten Jahrzehnten zunehmende Differenzierung auch hier nachdrücklichst zu fordern ist; einfache 1:1 – Verhältnisse und „Spiegelungen“ entsprechen jedenfalls nicht dem Forschungsbefund. „Grauzonen“ und Mehrfachvereinnahmungen / Mehrfachcodierungen sind das Übliche."

Johanna Trummer: "Könnten Sie näher erläutern, inwiefern in der von Ihnen beschriebenen dritten Phase eine Kontaktaufnahme der Staatsoper mit den Festspielen Salzburg stattfand und sich auf das Bild Österreichs als „Musik- und Kulturnation“ auswirkte?"

Christian Glanz: "Im Verhältnis zu den Salzburger Festspielen lässt sich das für die österreichische Realverfassung nach 1918/19 wesentliche Moment „Zentrum – Peripherie“ ablesen. Von beiden Seiten (Wiener Oper und Festspiele) gab es dabei das Interesse, in der Kooperation die jeweilige Eigenbedeutung herauszustellen / diese zu erweitern. Hierin scheint mir auch klar der Konnex zu „Musikland“ und „Kulturnation“ erkennbar zu sein. Seitens der jeweils zuständigen politischen Institutionen / Amtsträger hingegen ist durchgehend das „übergeordnete“ Zentrum – Peripherie – Modell erkennbar, ergänzt um teils recht konkrete Argumente, die der jeweiligen direkten Zeitsituation geschuldet sind (Krisen der 1920er Jahre, Verhältnis zum deutschen Nachbarn etc.)."

Johanna Trummer: "Sie erwähnen die „Entnazifizierung“ in der letzten im Projekt untersuchten Phase. Im Bereich der Musikausbildung in der Steiermark scheint der dringende Bedarf an qualifiziertem Lehrpersonal derartige Bestrebungen oft in den Hintergrund gerückt zu haben – war dies im Fall der Oper in Wien ähnlich? Lassen sich „Brüche“ in Karrieren feststellen, oder wurden sie unbeeinträchtigt fortgesetzt?"

Christian Glanz: "Tatsächlich gab es (im Projektbericht ausführlich dargestellt) einige Prozesse und Urteile, vereinzelt kamen dadurch auch berufliche Lebensläufe an ihr Ende. Zweifellos war aber auch hier die Elitenkontinuität deutlich; nach meist nur sehr kurzer „Auszeit“ wurden Karrieren auf allen Ebenen fortgesetzt. Die Verdrängung der NS-Aufarbeitung durch den Kalten Krieg hat auch hier ganz direkt funktioniert. Umso mehr, als die Staatsoper ja früh und erfolgreich als „Symbol eines unbelasteten Österreich“ positioniert wurde."

Julia Mair: "Wie verlief die Entnazifizierung an der Wiener Staatsoper? Gab es Künstler_innen, die emigrierten und dann zurückgeholt wurden? Gab es Karrieren an der Oper, die ohne einen Bruch während und nach dem NS-Regime fortgesetzt werden konnten?"

Christian Glanz: "Beides gab es (wie im gesamten Musikleben); offizielle „Rückholungen“ im Staatsauftrag erfolgten aber auch hier nicht, die Rückkehr an die Staatsoper erfolgte aus Eigeninteresse. Ohne tatsächlichen Bruch verlief beispielsweise die Dirigentenkarriere von Karl Böhm weiter (obwohl auch damals schon klar war, wie sehr gerade Böhm vielfältige NS-Nähe gehabt hatte). Dass gerade dieser Dirigent dann 1955 im Zuge der hochsymbolischen Wiedereröffnung so prominent platziert sich findet darf als besonders drastisches Beispiel für Vergangenheitsblindheit gewertet werden."

Juliane Oberegger: "Woran liegt es, dass dieses Archivmaterial bisher nie vollständig gesichtet wurde? Hat das evtl. rein politische Gründe, oder gab es daneben noch andere Aspekte, die das beeinflussten?"

Christian Glanz: "Nun, „vollständig“ gesichtet wurde das gesamte Material auch im Zuge unserer Forschungen leider keineswegs! Es gibt da noch viel zu tun. Die Gründe sind wie immer vielfältig: die „offizielle“ Wiener Operngeschichtsschreibung war jahrzehntelang sehr direkt mit dem Haus verbunden bzw sah ihre Rolle in der Fortschreibung der „Musikstadt“ – Symbolik; die Operngeschichtsschreibung fokussierte fast ausschließlich auf große Namen und die Entwicklung des Repertoires im Kontext mit diesen; das Archiv der Staatsoper wiederum war und ist vor allem ein „praktischer“ Ort (für die täglichen Aufführungen und ihre Bedürfnisse), das prägt auch den Umgang mit den Materialien."