Diskussion: Violin-Schlüssel-Erlebnisse


Meine Anmerkungen resultieren aus der Kenntnis der Vita von und der Quellen zu Max Rostal als Archivarin. Einen musikpädagogischen Hintergrund habe ich nicht und auf musikalischem Gebiet bin ich nur als Amateurin unterwegs.

1) Susanne Kogler: "Liebe Frau Kalcher, sehr herzlichen Dank für den Beitrag zu Max Rostal und seine Beziehungen zu Graz. Rostal hat ja einen großen Schülerkreis begeistert, und weil wir hier über musikpädagogische Prinzipien, Leitbilder und Inhalte sprechen, würde mich noch interessieren, ob Sie  - vielleicht auch im Unterschied zu Kollegen - Besonderheiten des Lehrer-Schüler-Verhältnisses im Kreis um Max Rostal bemerkt haben; oder sind es eher Muster, die auch bei anderen charismatischen Lehrern zu bemerken sind? Und denken Sie, dass dieses Modell heute immer noch so funktioniert wie damals oder hat es auch eine bestimmte Bedeutung in der Zeit?"

Antje Kalcher: "Liebe Frau Kogler, das ist eine interessante Frage. Sicherlich war es ein besonderes Lehrer-Schüler-Verhältnis, was sich auch darin ausdrückt, dass bis heute ehemalige Schüler und auch „Enkelschüler“ auf uns zukommen, ob den Nachlass einzusehen und festzustellen, was sich bei uns von ihrem verehrten Lehrer erhalten hat. Durchgängig erzählen die Schüler, wie prägend Rostal für ihre Musikerkarriere gewesen sei und wie stark er auf die Bildung der Persönlichkeit Einfluss genommen hat. Charakteristisch ist eine natürliche quasi „gesunde“ Dominanz, die nicht ins Autoritäre gekippt zu sein scheint, wie dies bei Carl Flesch der Fall war. Sein Credo: „Wenn der Schüler nicht Butter in meiner Hand ist, kann ich nichts mit ihm anfangen.“ Vielmehr sagt Rostal von sich selbst, sein Prinzip sei es „hilfreich zu sein“. Er wollte jeden Schüler ganz individuell gemäß seinen Fähigkeiten und Bedürfnissen unterstützen, brachte dafür jedem Einzelnen ein hohes Maß an Interesse entgegen und agierte mit viel Empathie. Dies wird durchgängig von seinen Schülern bestätigt. Insofern erscheint mir Rostals pädagogischer Stil durchaus als „modern“ und auch tragfähig für die heutige Zeit. Eine detaillierte Darstellung seiner Pädagogik findet sich in der Publikation „Max Rostal. Künstler und Lehrer“ von Peter Gries, einem „Enkelschüler“ über Rostals Assistentin an der Kölner Hochschule, Berta Vollmer, die selbst aus der Rostal-Schule hervorgegangen ist. Insgesamt kann man sagen, dass er – vielleicht im Gegensatz zu anderen Lehrern – sowohl mit Talent für die Pädagogik als auch mit Freude daran agiert zu haben scheint. (siehe auch meine Ausführungen zu Frage 3)"

2) Julia Mair: "Was waren die Gründe dafür, dass sich die Musikhochschule Köln 1957 derart um eine Rückholung Max Rostals aus England bemühte? "

Antje Kalcher: "Liebe Frau Mair, neben der Kölner Hochschule hatte Rostal, wie er selbst schreibt, Angebote von den Musikhochschulen in Stuttgart, Hamburg und Freiburg im Breisgau. Darüber hinaus kam auch Georg Knepler auf ihn zu, der ihn für die Musikhochschule in Berlin (Ost) gewinnen wollte. Er führte mit allen Verhandlungen.
Ein Übersiedeln in die DDR kam für Rostal aus politischen Gründen nicht in Frage. Den Ausschlag für Köln gab wohl Rostals persönliche Bekanntschaft mit dem Pianisten Heinz Schröter, den Rostal bereits aus dessen Zeit beim Hessischen Rundfunk kannte. Schröter hatte Rostal für Rundfunkaufnahmen engagiert. Als er 1957 Direktor der Hochschule für Musik in Köln wurde, sprach er Rostal an. Später bildete Rostal mit Schröter und Gaspar Cassado das Kölner Trio."

3) Juliane Oberegger: "Weiß man, was genau die besondere Beziehung zu Carl Flesch ausmachte? Gibt es eine Möglichkeit nachzuvollziehen, ob bzw. inwieweit sich Rostals Unterricht an dem seines Lehrers orientierte?"

Antje Kalcher: "Liebe Frau Oberegger, Flesch war Rostals prägender Lehrer. Rostal kam im Alter von 15 Jahren zu Flesch, der seinerzeit in Berlin Privatunterricht gab. Rostals Vater war in Wien geblieben, Flesch war also möglichweise eine Art Vaterersatz. Im Unterricht war Flesch aufgrund seines autoritären Stils „sehr unsympathisch“ und „ein Despot“, kaum war die Stunde vorbei, war er freundlich, fast väterlich. Und offenbar hat es auch menschlich harmonisiert. Zur Pädagogik: Rostal stellt fest, dass er in der
Tradition Fleschs lehre und bestimmte Aspekte, die er schätze, auch fortführe z.B. die spieltechnische Perfektion künstlerischen Zielen unterzuordnen, allerdings in Form einer Evolution, nicht einer Kopie. Den despotischen Habitus Fleschs hielt er für veraltet und nicht mehr tragbar in seiner Zeit. Selbst vorzuspielen praktizierte sowohl Flesch als auch Rostal. Eine weitere Besonderheit Fleschs war seine intellektuelle Ausrichtung. Er, der sich selbst als „Doktor des Violinspiels“ bezeichnete, war der Erste, der die Materie mit Begrifflichkeiten zu durchdringen und zu systematisieren suchte. Auch dies übernahm Rostal. Dies resultierte im „Handbuch zum Geigenspiel“, das posthum 1997 erschien und das aus diversen Manuskripten im Nachlass entstand."

4) Juliane Oberegger: "Welche Konflikte hatte Rostal mit Österreich? (Siehe 2. Absatz, S. 2)"

Antje Kalcher: "Rostals Beziehung zu Österreich: In dem erwähnten Radiomanuskript spricht Rostal von seiner „große[n] und alte[n], aber unerwiderte[n] Liebe zu Österreich“. In Teschen geboren, kam er 1913 im Alter von 8 Jahren nach Wien, wo er bis 1920 blieb. Nach den Berliner Studienjahren machte er im Jahr 1925 einen „ernsten“ Versuch, sich wieder in Österreich niederzulassen. Zitat: „Leider schien es unmöglich, mich in dieser Zeit in Österreich wieder durchzusetzen und ich kann in aller Objektivität und mit kühlem Abstand, also ohne den geringsten Groll, behaupten, dass meine damaligen Kollegen mir das Leben nicht gerade zu leicht machten.“ 1927 verließ er Wien dann „mit traurigem Herzen“ endgültig. In seiner Autobiographie spricht er über denselben Zeitraum von „Intrigantentum“ unter den Wiener Musikern. Speziell sein ehemaliger Lehrer Arnold Rosé soll dafür gesorgt haben, dass er in Wien nicht Fuß fassen konnte. Das Radiointerview stammt aus dem Jahr 1954 und auch hier erwähnt Rostal, ohne Nennung von Namen, dass es wieder Kräfte gäbe, die sich gegen Etablierung des Kurses in Strobl wendeten. Nichtsdestotrotz schreibt er auch, dass dies alles seiner Liebe zu Österreich keinen Abbruch täte und dass er die österreichische Kultur dennoch überall, wo er sich aufhalte, verbreiten würde. Seine erste und seine zweite Ehefrau waren denn auch Österreicherinnen."

5) Johanna Trummer: "Geht aus dem erwähnten Radiomanuskript von 1954 oder anderen Quellen näher hervor, inwiefern Rostal seine Beziehung zu Österreich als nicht ganz konfliktfrei sah? Glauben Sie, es war eine bewusste Entscheidung Rostals, sich in der Schweiz anzusiedeln und nicht in Deutschland (oder Österreich, falls die Möglichkeit bestanden hatte); oder ist dies eher praktischen Gründen verschuldet?"

Antje Kalcher: "Liebe Frau Trummer, meiner Kenntnis der Quellen nach hat Rostal von den österreichischen Hochschulen bzw. Konservatorien kein Angebot für eine Professur erhalten. Sich in Deutschland dauerhaft niederzulassen, schloss er infolge seiner Erlebnisse in der NS-Zeit und seiner Vertreibung kategorisch aus. Die Lehrtätigkeit in Köln trat er hingegen „reinen Herzens“ an, denn er wollte „niemals einen deutschen Schüler fühlen lassen, was die Deutschen mir einmal angetan haben.“ Blieb also nur die Schweiz."

6) Johanna Trummer: "Geben die Quellen Einblicke in Rostals musikpädagogische Konzepte oder Schwerpunkte? Beispielsweise im Rahmen der ESTA?"

Antje Kalcher: "Den besten Einblick in Rostals musikpädagogischen Konzepte geben die Drucke bzw. Manuskripte von Interviews, auch mit Schülern, und seine Autobiographie sowie weitere Manuskripte, die er in Vorbereitung der Herausgabe seiner Autobiographie erstellt hat. Charakteristisch war z.B. dass der Unterricht öffentlich war, damit die Mitschüler von den Fehlern lernen konnten, dass er häufig schwierige Stellen selbst vorspielte. Das Wesentlichste war aber wahrscheinlich das bereits erwähnte intensive Eingehen auf jeden einzelnen Schüler, ohne dieses überformen zu wollen. Alois Kottmann nennt dies „seine sensible Achtung vor der Persönlichkeit des Schülers“ und sein „konzentriertes Interesse am Menschen“. Er versuchte, die künstlerischen Interessen des Schülers zu erfassen und ließ ihnen einen beträchtlichen Freiraum. Ganz im Sinne des Credos, das auch Flesch postulierte, ordnete er die spieltechnische
Vollendung – wenngleich er sie für wichtig hielt – der „Lösung künstlerischer Fragen“ bzw. der Entwicklung einer – eigenen – „künstlerischen Inspiration“ unter. Im Rahmen der ESTA war ihm wichtig, dass die Pädagogen des Elementarunterrichts sich mit den Virtuosen und den Lehrern der fortgeschrittenen Schüler zu fruchtbarem Austausch zusammenfanden. Auch und besonders im internationalen Sinne."