Diskussion: Zur Personalunion berufen. Vielfältige Erwartungen an Musikpädagog_innen anhand historischer Quellen und Oral History

Susanne Kogler: "Haben Sie ein Spezifikum oder Spezifika der Position Erich Marckhls bemerken können im Vergleich zu den Positionen der anderen Zeitgenossen? Mir ist z.B. aufgefallen, dass es ja in einigen Statements auch um Volks-und Blasmusik ging, mit der man die Jugend gewinnen wollte. Marckhl wiederum spricht von „Musik in der Landschaft“, erwähnt aber eine Vielzahl von Gattungen."

Johanna Trummer: "Marckhl scheint in den Artikeln, die ich bisher von ihm gelesen habe, im Vergleich mit anderen stärker darauf bedacht zu sein, diverse Problematiken in der Musikpädagogik in einem größeren, gesellschaftspolitischem Kontext zu sehen. Er selbst betont dabei, dass er ein realistisches Bild zeichnen wolle und realistische Lösungsansätze biete (illusorisches Wunschdenken sei nicht zielführend).
In seinen Aussagen lässt sich meiner Meinung nach ein gewisses „elitäres“ Denken erkennen, wenn es darum geht, was echte Kunst ist. Damit einhergehend spricht er auch von einer „Gemeinde“, einem „Kreis“ an Verstehenden echter Kunst, im Gegensatz zum breiten Publikum, das durch kommerzialisierte – und seiner Meinung nach dadurch abgewertete – Kunst angezogen wird. Dementsprechend erwartet er auch von der Musikerziehung, dass sie eine persönliche Beziehung zur und ein Verstehen der Musik fördert.
Welche Musikgattungen für ihn dabei konkret unter „Kunst“ fallen, habe ich noch nicht feststellen können, wird also ein interessanter Punkt in den weiteren Recherchen sein, zumal ja eben einige andere sich konkret auf Volks- und Blasmusik oder auch populäre Musik (die auch näher zu definieren wäre) beziehen. "

Susanne Kogler: "Und dann noch eine Frage: Sie haben sich ja zu Recht auf die 50er Jahre konzentriert mit dem Fokus, aktuelle Themen anzuschneiden. Könnten Sie hier noch kurz darlegen, wie sich Positionen von den 50er Jahren bis zu den heutigen verändert haben? Gibt es hier generelle Tendenzen oder ist es sehr individuell zu sehen, was den Einzelnen wichtig ist?"

Johanna Trummer: "Bisher haben sich vor allem Parallelen zwischen den Artikeln der 50er Jahre und den Interviews (die ja verschiedene Zeiträume abdecken) ergeben: Durch alle Quellen zieht sich beispielsweise die Begriffsdiskussion („Musikerziehung“) sowie ein gewisser Drang oder auch Zwang, die Wichtigkeit des Unterrichtsfaches in der allgemeinen Schule zu rechtfertigen. Interessant bei letzterem ist, dass bereits in den 1950ern darauf gepocht wurde, das Musik vor allem aus humanistischer Sicht relevant ist, damit wir nicht zu einem Insektenstaat werden – etwas, was auch heute beispielsweise von Herrn Rehorska betont wurde; dazwischen gab es allerdings – wie auch Herr Gritsch erzählte – eine Zeit, in der versucht wurde, Musikunterricht durch Transfereffekte zu rechtfertigen.
Generelle Tendenzen wie die heute immer stärkere Betonung der Kompetenzentwicklung sind durchaus zu beobachten.
Gleichzeitig ist es sicherlich richtig und wichtig zu beachten, dass sowohl die durchgeführten Interviews als auch die Artikel als Aussagen einzelner verstanden werden müssen und nicht immer als generelle Ansichten der Zeit gewertet werden können. (Herr Nardelli hat beispielsweise in den 1950ern und 60ern noch stark das Bild des Lehrers als Dorfgelehrten vertreten und gelebt, war damit aber anscheinend eher ein Ausnahmefall.)
Außerdem ist in diesem Zusammenhang denke ich noch hervorzuheben, dass Einzelne die – abgedruckten und dadurch jetzt sichtbaren – Tendenzen einer Zeit sehr stark prägen konnten. Im Hinblick auf das Thema „Lehrerbild“ beispielsweise Anton Dawidowicz, der sehr viele Artikel zu diesem Thema verfasste."

Julia Mair: "Welche konkreten Erwartungen werden an heutige und zukünftige Musikpädagog_innen/ Musiklehrer_innen gestellt werden?"

Johanna Trummer: "Viele der Erwartungen, die sich bei der Betrachtung der Artikel aus den 1950er Jahren sowie in den Interviews herauskristallisiert haben, sind wohl auch heute noch aktuell; beispielsweise ein gewisses Berufsethos oder die „drei Säulen“ – künstlerisch, pädagogisch, wissenschaftlich – der Musikpädagogik.
Zudem wird von Pädagoginnen (nicht nur im musikalischen Bereich) vermehrt erwartet, grundsätzliche erzieherische Aufgaben zu übernehmen, da oft beide Eltern berufstätig sind, wie auch Walter Rehorska beschreibt. Aktuelle Themen sind außerdem Migration, Kompetenzorientierung – AGMÖ-Präsidentin Leonore Donat hat einen noch stärkeren Fokus darauf im Lehrplan 2020 angekündigt – und in Zukunft sicherlich auch neue Schulkonzepte, wie die Ganztagsschule."

Juliane Oberegger: "Woran liegt es, denkst du, dass sich die Aufgaben des Musiklehrers mittlerweile so auf die Schule beschränken? Ist dir ein Punkt in den Interviews aufgefallen, an dem sich das geändert hat?"

Zur zweiten Frage denke ich, dass bereits mit Beginn der in den Interviews abgedeckten Zeitspanne – also Ende der 1950er Jahre – das Bild eines (Musik-)Lehrers als Dorflehrer ein Ausnahmefall war. Insbesondere im Gespräch mit Herrn Nardelli wurde deutlich, dass dieser versuchte, als vielschichtig Gebildeter über den schulischen Kontext hinaus zu wirken, es sich dabei aber nicht um den Regelfall handelte. Auch in frühen Artikeln (unter anderem von Marckhl) in der Musikerziehung findet sich die Forderung, (Musik-)Schulen sollen als Kulturzentren wirken. Insbesondere Kapfenberg hatte dabei eine Vorbildrolle inne. Wie und wann sich diese Idealvorstellung in den Artikeln verändert hat, ist noch zu untersuchen.
Ein Grund für die stärkere Fokussierung auf schulische Aufgaben von Lehrpersonen könnte meiner Meinung nach in institutionellen und bürokratischen Strukturen liegen. Wie Herr Rehorska in seinem Interview schreibt, sah er in der Stelle als Leiter einer Musikschule auch die Möglichkeit, eine Kulturszene aufzubauen; wobei er unbürokratische Freiräume als ausschlaggebend für die Berufszufriedenheit nennt. Derartige Freiräume sind heute wohl weniger ausgeprägt. Zudem könnte der unterschiedliche institutionelle rechtliche Aufbau von – öffentlicher – allgemeiner Schule und je nach Bundesland von Land oder Gemeinden getragenen Musikschulen – „mit Öffentlichkeitsrecht“ dazu beitragen, dass beispielsweise Kooperationen beider Einrichtungen schwieriger sind.
Nicht zuletzt werden sicherlich die umfassenderen erzieherischen Anforderungen an Lehrpersonen in der Schule (wie oben beschrieben) oft ausschlaggebend dafür sein, dass für Engagement außerhalb des schulischen Kontexts keine Kapazitäten zur Verfügung stehen.

Juliane Oberegger: "Ist die aktuelle Tendenz, das Künstlerische in den Vordergrund zu stellen (und wie Gritsch anmerkt, auch in einer Lehrperson erstrebenswerter ist, als eine wissenschaftliche Basis), nicht ein gewisser Rückschritt von den Bemühungen seit 1945, das Fach maturatauglich zu machen?"

Johanna Trummer: "Hier muss man glaube ich unterscheiden zwischen den Anforderungen an Lehrpersonen, die etwa in Form des Curriculums für Studierende deutlich werden, und dem Lehrplan für die Schule. Die Betonung der „Künstlerischen Persönlichkeit“ der Lehrperson, die für einen Unterricht, der nicht nur aus Frontalvorträgen besteht, notwendig ist und dazu beitragen kann, dass Kinder und Jugendliche eine Lehrperson respektieren, sehe ich daher an sich nicht als Indiz für einen Rückschritt. Was aber in verschiedenen Interviews deutlich geworden ist und sich auf die Unterrichtsinhalte in der Schule ausgewirkt hat, ist die Erweiterung des Lehrstoffes, beispielsweise die Inklusion von populärer Musik. Das beschreiben etwa Gritsch und Dorfegger, letzterer sieht darin explizit eine Erweiterung und eine positive Entwicklung. Was das aber auch zur Folge hat, ist, dass Inhalte eher exemplarisch (als chronologisch) gelehrt werden und man womöglich weniger in die Tiefe gehen kann. Ebenso ist es denke ich mit dem Fokus auf Kompetenzentwicklung, der laut Donat im Lehrplan 2020 noch verstärkt werden soll und neben vielen Freiheiten vermutlich auch einen eher exemplarischen Zugang zulässt. Ob diese Faktoren als Rückschritt ist meiner Meinung nach dennoch fraglich, zumal insbesondere die Kompetenzorientierung eine allgemeine Entwicklung ist und Musik somit nicht hinter andere Fächer zurücksetzen kann."