Zur Personalunion berufen. Vielfältige Erwartungen an Musikpädagog_innen anhand historischer Quellen und Oral History
Erich Marckhl betonte in einem Artikel in der von der Arbeitsgemeinschaft der Musikerzieher Österreichs (AGMÖ) herausgegebenen Zeitschrift Musikerziehung die Wichtigkeit der „Musikerziehung als der Quelle musikkulturellen Lebens“[1]. An Lehrende an allgemein bildenden Schulen wie auch an Musikschulen wurden im Lauf der Zeit unterschiedliche Erwartungen hinsichtlich ihres Berufsethos‘, der Struktur des Unterrichtsinhaltes – künstlerische Aktivitäten und theoretische Lehrinhalte – sowie der Lehrziele – Stichworte hierbei sind Aktivierung der Jugend und Bildung zukünftigen Publikums – herangetragen.
Der vorliegende Beitrag fasst die wichtigsten dieser vielfältigen Erwartungen anhand von Artikeln aus der bereits genannten Zeitschrift Musikerziehung aus den 1950er-Jahren sowie anhand von Interviewausschnitten mit Zeitzeugen, die innerhalb eines zeitlichen Rahmens von den 1950ern bis heute in der Musikpädagogik aktiv waren beziehungsweise sind, zusammen. Dabei werden vorrangig Gemeinsamkeiten in den Forderungen beziehungsweise Rollenbildern hervorgestrichen und vereinzelt Veränderungen von früheren Erwartungen zu heutigen Verhältnissen aufgezeigt. Das Schlagwort „Musikpädagog_innen“ mag verallgemeinernd wirken, da es selbstverständlich unterschiedliche Erwartungen an Lehrende an unterschiedlichen Einrichtungen gibt. Dennoch gibt es generelle Aspekte, wie beispielsweise das Berufsethos, das sowohl für Lehrende an allgemein bildenden Schulen als auch an Musikschulen relevant ist. Auf Unterschiede wurde versucht im Sinn eines differenzierten Bildes hinzuweisen.
Der Beitrag stellt einen Überblick über die bisher herausgearbeiteten Sichtweisen auf die Rolle von Lehrenden dar und ist eher als punktuelle Darstellung der Situation in den 1950er-Jahren mit vereinzelten Querverweisen auf spätere Zeitpunkte zu verstehen.
Das notwendige Berufsethos
Wie Heinrich Peter, damaliger Ministerialrat, 1953 in der Zeitschrift Musikerziehung schreibt, erfordern gewisse Berufe, z.B. in der Medizin, in der Justiz oder als Priester_in, ein bestimmtes von Verantwortungsgefühl und Sendungsbewusstsein geprägtes Berufsethos. Sendungsbewusstsein bedeutet dabei „das Wissen um W e r t u n d N o t w e n d i g k e i t der eigenen Aufgabe“. Zu diesen Berufen zähle auch das Lehramt: „Für das Lehramt in allen seinen Formen ist es charakteristisch, daß unter seinen Berufstugenden die G e r e c h t i g k e i t und die L i e b e z u r J u g e n d im Vordergrund stehen. Es wäre aber unzureichend, wollte man damit bereits das Ethos des Lehrberufs erfüllt sehen, vielmehr gehören zu diesem schönen Lebensberuf mindestens noch zwei weitere Züge. Der eine ist die Erkenntnis, daß es eine S e n d u n g besonderer Art ist, Lehrer zu sein, der zweite ist die Überzeugung, daß der Mensch in weitem Umfange erziehungsfähig und bildsam sei. Aus beidem zusammen ergibt sich dann die bewegende und oft wirklich beglückende Einsicht, als Berufserzieher ein echter M i t g e s t a l t e r d e r Z u k u n f t zu sein.“[2] Gerade für den Aspekt der Mitgestaltung der (kulturellen) Zukunft kommt das bereits genannte Sendungsbewusstsein zum Tragen. Der Wert und die Notwendigkeit der Tätigkeit von Musikpädagog_innen besteht in diesem Sinn also in der „E r h a l t u n g u n d E n t f a l t u n g der m u s i k a l i s c h e n Substanz unseres Volkes“.[3] Musikpädagog_innen werden somit Träger_innen der (Musik-)Kultur, wie aus Artikeln – vorrangig von Anton Dawidowicz, in den 1950ern Lehrer am Mozarteum Salzburg, später Fachinspektor für Musikerziehung für Salzburg, Tirol und Vorarlberg – aus den späten 1940er- und frühen 1950er-Jahren hervorgeht. Im Aufsatz „Der Lehrer, Träger der Musikkultur“ betont Dawidowicz, dass Österreich zwar durch namhafte Komponist_innen und Künstler_innen den Ruf als Musikland erhalten habe, dabei aber nicht das Fundament vergessen werden dürfe, auf dem die Musikkultur beruhe: die musikalische Bildung weiter Bevölkerungsschichten, nicht zuletzt als zukünftiges Publikum.[4]
Diese Bildung breiter Bevölkerungsschichten sei eine Aufgabe der Musik-Lehrenden, so Dawidowicz. Zudem wird an Lehrende an allgemein bildenden Schulen, in dieser Zeit noch die Forderung nach einem über den rein schulischen Kontext hinausreichenden Engagement im Sinne eines Dorflehrers oder Volksbildners gestellt. So habe „der Lehrer nicht nur die Jugend musikalisch zu erziehen, sondern ist darüber hinaus gerade infolge seiner Vorbildung, und weil er unter der Jugend die geeignete Auslese für den Nachwuchs treffen kann, prädestiniert als Organist, Chorleiter, Leiter von Volksmusikgruppen und von Blechkapellen erziehend und führend tätig zu sein.“[5]
Dieses historisch begründete Idealbild vom Lehrer als Volksbildner beschrieb auch Rudolf Nardelli, der seine Tätigkeit als AHS-Lehrer in den 1950er-Jahren begann und auch in der AGMÖ aktiv war, im für dieses Forschungsprojekt durchgeführten Interview.
Nardelli über Lehrende als Instanzen der Kulturvermittlung
Im Gespräch mit Rudolf Nardelli wurde zudem deutlich, dass er selbst versuchte, nach diesem Vorbild in die Breite zu wirken und dass auch von außen – etwa von der Elternschaft – ein derartiges Engagement erwartet wurde. Neben Kooperationen zwischen AHS und Musikschule in Bruck an der Mur in den 1960er-Jahren, die zum musikalischen Profil der Region in dieser Zeit beigetragen zu haben scheinen, erzählte Rudolf Nardelli auch von seiner Unterrichtspraxis, wobei sein Bestreben, junge Menschen nachhaltig für Musik zu öffnen und zu begeistern, kurzum sein Sendungsbewusstsein, erkennbar war.
Dawidowicz spricht in diesem Zusammenhang die dafür notwendige Ausbildung angehender Lehrender an: „Zum Unterschied von anderen Fächern muß hier nicht nur ein Wissen sondern vor allem ein Können vermittelt werden.“[6] Er bemängelt die fehlende allgemeine Unterstützung von Lehrkräften und kritisiert insbesondere die zu geringe Musikstundenanzahl an den Lehrerbildungsanstalten sowie die sehr unterschiedlichen Vorkenntnisse der angehenden Lehrpersonen, wodurch die Ausbildung erschwert werde.[7]
Im Bereich der Musikschularbeit finden sich Ende der 1950er-Jahre ebenfalls Aussagen über die „menschliche Grundhaltung“[8] und den „große[n] Idealismus“[9], die Lehrpersonen mitbringen müssten. Hans Bachl zufolge sind diese sogar wichtiger als technische Voraussetzungen, zumal Lehrende an Musikschulen aufgrund der Freiwilligkeit des Besuchs sensibler zwischen Lehrer und Unterhaltung manövrieren müssten, als Lehrende an allgemein bildenden Schulen.
Erik Werba formuliert die für den Lehrberuf notwendige Geisteshaltung so: „Der Musikerzieher hat – im Großen und im Kleinen – Ideenreichtum, Modulationskraft seines pädagogischen Talents, Improvisationsbereitschaft nötig, um allen Situationen seines Musiklehrerlebens gewachsen zu sein.“[10]
Die hier angesprochenen Voraussetzungen beziehen sich wiederum auf Charaktereigenschaften, die meist nicht erlernt werden können, sondern in der Persönlichkeit der Lehrkräfte verankert sein müssen. Ähnlich schlussfolgert auch Ministerialrat Heinrich Peter: „Es muss sich daher jeder Musikerzieher darüber klar sein, daß dort, wo das pädagogische Berufsethos fehlt, keine noch so hohe künstlerische Begabung und kein Virtuosentum eine erfolgreiche musische Bildung vermitteln kann. Oder sprechen nicht die Leistungen jener großen Musikpädagogen, an denen unser Land zum Glück so reich ist, deutlich für die Notwendigkeit einer starken pädagogischen Haltung, die auch noch zur musikalischen Genialität hinzutreten muß, um andere „emporbilden“ zu können, wie es Pestalozzi so anschaulich ausdrückt?“[11]
Künstlerisch, pädagogisch, wissenschaftlich – drei Säulen der Musikpädagogik
Neben dem Berufsethos als Grundvoraussetzung in der (Musik-)Pädaogik lassen sich die Anforderungen bzw. Erwartungen an Musikpädagog_innen in drei Aspekte einteilen: Künstlerisch, pädagogisch und wissenschaftlich. Mitunter werden nur die ersten beiden genannt und einander gegenübergestellt. Während Bachl und Peter die ethisch-pädagogische Einstellung betonen (wobei Bachl sie über technische Voraussetzungen stellt und Peter beim Fehlen dieser musikalische Bildungsarbeit für unmöglich hält), heben zwei Zeitzeugen wiederum die Wichtigkeit des musikalisch-praktischen Aspekts des Lehramts – beide beziehen sich auf die Schulmusik – hervor. Der bereits zitierte Rudolf Nardelli sieht in einer gefestigten musikalischen Persönlichkeit sogar eine mögliche Kompensation für etwaige methodische Defizite:
Nardelli zum Thema Didaktik vs. musikalisches Können/Auftreten
Bernhard Gritsch, Dozent für Musikpädagogik an der KUG und Delegierter der Landesgruppe Steiermark der AGMÖ, sieht die drei Aspekte, die drei Säulen der musikpädagogischen Ausbildung, wie er es formuliert, als gleichwertig an, merkt jedoch gleichzeitig an, dass im Schulunterricht vor allem die künstlerische Seite von Lehrpersonen evident werde und somit einen Einfluss auf das Gelingen des Unterrichts haben könne.
Gritsch über die "drei Säulen" der Musikpädagogik
Ein differenziertes Bild liefert Anton Dawidowicz im Artikel „Der Schulmusiker – Lehrer und Erzieher“.[12] Er greift die Unterscheidung von Heinrich Peter auf und stellt dem Typus „Künstler“ den Typus „Lehrer“ gegenüber und plädiert dafür, sich der Vorteile beider Typen bewusst zu sein, statt diesen Dualismus in der Musikpädagogik als Problem zu sehen. Hinsichtlich des „Künstlers“ nennt er etwa Kreativität und Improvisationsvermögen, was den Unterricht verlebendigen könne, hinsichtlich des „Lehrers“ nennt er unter anderem strukturiertes Arbeiten und Verantwortungsgefühl für die Rolle in der Gesamterziehung, wodurch ein zielführender Unterricht erreicht werden könne.
Im Hinblick auf unterschiedliche Schultypen bringt dieser Dualismus aber auch Herausforderungen mit sich. Beispielsweise könne Musik je nach persönlicher Neigung der Lehrperson eine mehr oder weniger präsente Rolle im Unterricht in der Volksschule spielen. Dawidowicz warnt jedoch davor, auf dieser Schulstufe eigene Musik-Fachlehrende einzuführen. . „In diesem Vorschlag ist jedoch die große Gefahr enthalten, daß der Musikunterricht aus dem Gesamtverband der Lehr- und Bildungsfächer ausgeklammert würde, daß er isoliert erscheint.“[13]. Im Bereich der Mittelschule hingegen habe der Musikunterricht durch Fachlehrer eine Werterhöhung erfahren, seit diese eine vierjährige Ausbildung an den damaligen Staatsakademien in Wien und Salzburg sowie ein Studium in einem zweiten, wissenschaftlichen Fach an einer Universität absolvieren. Bereits in einem früheren Artikel wies Dawidowicz auf diese Wertsteigerung durch die akademische und universitäre Ausbildung hin. Daher gehöre „[di]e Ansicht, daß ein Musikerzieher einerseits ein Musiker untergeordneten Ranges – im Vergleich zum eigentlichen Künstler, oder andererseits ein nicht voll zu nehmender Mittelschullehrer – infolge seines Lehrfaches und mangels akademischer Ausbildung – ist, […] zu den Restbeständen einer verflossenen Zeit“[14]
Dennoch findet sich in der Musikerziehung auch ein extremes Gegenbeispiel, verfasst von Karl Lustig-Prean, dem damaligen Direktor der Musiklehranstalten der Stadt Wien, welches jedoch hinsichtlich der untersuchten schriftlichen Quellen als Einzelfall gewertet werden kann:
„Die Straße jedes Instrumentallehrers macht eines Tages eine scharfe Biegung. Der junge Mensch sieht sich als künftigen Virtuosen, die Virtuosenlaufbahn aber ist heute noch viel schwieriger als früher, die Aussichten sind gering, die ganze Umschichtung in der sozialen und wirtschaftlichen Struktur hat dies noch verschärft. Der verhinderte Virtuose sieht den Musiklehrerberuf als Übergang, die Hoffnung, daß sein Virtuosentum eines Tages erkannt werde, bleibt, bis sie eines Tages zerbricht.“[15]
Demgegenüber sei ein Ausschnitt aus dem schriftlichen Interview mit Walter Rehorska, ehemaliger Präsident der AGMÖ und Lektor an der KUG, gestellt, das stellvertretend für andere die freie Entscheidung für die Pädagogik – aufgrund eines Sendungsbewusstseins einer bildungsfähigen Jugend und Bevölkerung gegenüber – verdeutlichen soll:
„Eine Weichenstellung zwischen einer technischen und eben künstlerisch-pädagogischen Ausbildung erfolgte relativ spät, etwa mit dem 20. Lebensjahr. Das Fundament dafür war die Begeisterung für das „Hobby“ Musik und das jugendliche Musizieren in verschiedenen Ensembles oder in der Blasmusik des Heimatortes. Die ausschlaggebende Weichenstellung erfolgte aber erst bei der ohne große Absicht meinerseits absolvierten Aufnahmsprüfung an der damaligen Musikhochschule Graz, bei der nur ganz wenige Kandidierende, darunter auch ich, aufgenommen wurde. Ich wurde in eine Zeit hineingeboren, in der eine Orchesterkarriere durchaus real erreichbar war und dieser Weg auch mir nach erfolgtem Probespiel offenstand. Ich entschied mich aber für die Leiterstelle der neu gegründeten Musikschule in Mureck, weil die Herausforderung der musikalischen Jugendarbeit und des Aufbaues einer Kulturszene mir als reizvolle und befriedigende Aufgabe erschienen. Bis heute vertrete ich hier die Meinung, dass unbürokratische Freiräume in jedem Beruf für die Berufszufriedenheit ausschlaggebend sind.“[16]
Der dritte Aspekt, der wissenschaftliche beziehungsweise inhaltliche, der bei der Thematisierung des Dualismus aus künstlerischen und pädagogischen Anteilen an der Musikerziehung meist ausgeklammert wird, wirft ein eigenes Problemfeld auf. Denn der Wissens- und Lernstoff hat Dawidowicz zufolge auch in der Musikpädagogik zugenommen, analog zur einer allgemeinen Tendenz der steigenden Wichtigkeit intellektueller Fächer.
Daher seien Lehrende gefordert, „sich auf den Kern des Stoffgebietes, auf das Tatsächliche und Wesentliche zu konzentrieren; sie werden den Zug auf das Herausarbeiten großer Entwicklungslinien einhalten müssen und damit viel zur Klärung des Wissensstoffes beitragen.“[17] Dieser Wissensstoff müsse außerdem in ein ausbalanciertes Verhältnis zum aktiven künstlerischen Tun im Musikunterricht gestellt werden. „Konzentration und Klarheit im Vortrag, ein Aufzeigen der großen Entwicklungslinie in Formen-, Stilkunde und Musikgeschichte werden den wohlabgewogenen Ausgleich zwischen der auf das praktische Musizieren gerichteten Erziehungsarbeit und der Vermittlung des Wissens- und Lernstoffes ergeben.“[18]
Leonore Donat, Präsidentin der AGMÖ, beschreibt ihre Erfahrungen damit, Inhalte für den Schulunterricht aufzubereiten und betont die Verknüpfung mit eigenem musikalischen Aktivwerden der Schüler_innen:
„Das Studium ermöglichte mir eine breite Wissensbasis, die Umsetzung für den Unterricht musste ich mir allerdings erarbeiten. Sehr hilfreich war das Unterrichtspraktikumsjahr, in dem ich in jedem Fach ein Jahr lang eine Klasse unterrichten durfte und gleichzeitig je eine Betreuerin hatte, die mir mit Rat und Tat zur Seite standen. Dieses Erfolgsmodell „Unterrichtspraktikum“ wurde ja mit der neuen Pädagog/innen-Bildung aufgegeben und durch ein (vermutlich billigeres) Mentor/innen-Modell ersetzt.
Ich habe mich von Anfang an mit Didaktik auseinandergesetzt und viele Fortbildungen besucht. Stichwort waren handlungsorientierter Unterricht und Lehr- und Lernziele. Mir war die starke aktive Einbeziehung der Schüler/innen immer wichtig, mein Unterricht war stets auf Gruppenarbeiten, offene Lerneinheiten und selbstbestimmtes Lernen ausgerichtet.
In meinem Musikunterricht habe ich mit meinen Schüler/innen immer viel gesungen und musiziert– von Pop bis Klassik. Die Unterrichtsinhalte orientierten sich am Lehrplan, selbstverständlich zu Beginn meiner Lehrtätigkeit auch an den vorhandenen Musikbüchern, und reichten vom Singen, Musizieren und Tanzen über Musiktheorie bis zur Musikgeschichte.“[19]
Die vielfältigen Anforderungen an Musikpädagog_innen fasst Bernhard Gritsch, mit Verweis auf seinen Vorgänger, Gerhard Wanker, so zusammen:
Gritsch über die breite Ausbildung von Schulmusiker_innen
Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang, dass sich in der Musikerziehung 1953 ein Artikel von Wilhelm Waldstein findet, in dem dieser auch hinsichtlich der instrumentalen oder gesanglichen Berufsausbildung die von Bernhard Gritsch aktuell angesprochene Spezialisierung der musikalischen Ausbildung thematisiert und diese dabei kritisch reflektiert. „Das Prinzip der Arbeitsteilung zur Erzielung höchster Einzelleistungen hat sich in diesen eineinhalb Jahrhunderten ja auch in der Wissenschaft und gar im Wirtschaftsleben ungehemmt durchgesetzt, hat zur Rationalisierung der Arbeit Wesentliches beigetragen, hat freilich auch oft genug den Menschen um die Überschau über sein Tätigkeitsfeld, damit um Vergleichs- und Urteilsmöglichkeit und nicht zuletzt um die tiefere seelische Befriedigung betrogen.“[20]
Schulmusik und Musikschule unterscheiden sich zudem auf struktureller Ebene, wie bereits in Artikeln Erich Marckhls deutlich wird.
Schulen und Musikschulen als – gemeinsame? – Zentren der Kultur
Marckhls Beschreibung der Aufgaben der Volks-Musikschulen in einem Artikel aus dem Jahr 1953 erinnert an die Erwartungen an Lehrende als Instanzen der Volksbildung und Breitenwirksamkeit, die hier bereits anhand von Dawidowicz‘ Aussagen behandelt wurden. Marckhl zufolge hat die Volks-Musikschule die Aufgabe, „ein Zentrum musikalischer Aktivität der Landschaft in einem kulturell würdigen und lebensvollen Sinne zu sein. Sie erfüllt diese Aufgabe, wenn sie kraft der sachlichen Qualitäten ihrer Lehrerschaft und mittels der sozialen Kraft der in ihr vereinigten und an ihr interessierten Persönlichkeiten zu einem Mittelpunkt regen, den Erscheinungen der Zeit gleicherweise wie der Literatur der Vergangenheit aufgeschlossenen Musizierens, sei es konzertanter, sei es intimer geschlossener kammermusikalischer, chorischer, orchestermäßiger Art wird, zum Sammelpunkt der (heute) Minderheit im Tiefen vom Musikleben erfaßter und geformter Menschen. […] Dies ist neben der Erziehungsaufgabe der Volks-Musikschule, die sie vor allem an der Jugend, und hier größtmögliche Breitenwirkung übend, leiten muß, ihre hervorragend soziale, gesellschaftsbildende Aufgabe.“[21]
Die Umsetzung dieser Aufgaben liegt selbstverständlich in der Verantwortung der Musikschulpädagog_innen und den zuständigen Leiter_innen. Zudem weist Marckhl in einem Referat im Rahmen der Tagung für Musikerzieher an Mittelschulen 1958 darauf hin, dass sich dabei auch ein Feld der Zusammenarbeit von Musikschule und allgemein bildender Schule ergibt. Kooperation sei hinsichtlich der Abstimmung und Rücksichtnahme bei kurzfristigen oder anderen außertourlichen Veränderungen im Stundenplan wichtig; als Wechselwirkung könne die allgemein bildende Schule im Rahmen von Schulchören oder bei gemeinsamen Feierlichkeiten von der musikalischen Ausbildung ihrer Schüler_innen profitieren. Marckhl meint, dass nicht nur Lehrende an Mittelschulen „sondern die allgemeine Schule als Ganzes in ihrer Verantwortlichkeit für die Bildung des ganzen Menschen und die Erhaltung eines abendländischen Kulturprofils die Helfer der Musikschulen sein müßten im Aufklärungsfeldzug gegen die Massenerscheinungen der Verflachung in der Beziehung zur Kunst und ihrer Übung, für die qualitativ einwandfreie, gründliche und umfassende musikalische Ausbildung, die insbesondere auch der Erziehung eines noch tragfähigen Musikberufsnachwuchses zu gelten hätte, ohne daß dieser deshalb auf Mittelschulbildung zu verzichten hätte.“[22]
Gleichzeitig weist er aber auch auf die verständlichen Schwierigkeiten bei der Zusammenarbeit von Schule und Musikschule hin, da diese historisch bedingt anderen Strukturen unterliegen – eine Problematik, die bis heute besteht, wie im schriftlichen Interview mit Walter Rehorska deutlich wird.
„Schulmusik und instrumentale Musikpädagogik stehen in Österreich durch eine unselige Kompetenzverteilung zwischen Bund und Ländern auf verschiedenen Seiten. So spielt die instrumentale Ausbildung an Pflichtschulen und Gymnasien mit Ausnahme von Schwerpunktformen quantitativ kaum eine Rolle und kann auch nicht ansatzweise die Nachwuchsbedürfnisse der österr. Musikszene stillen. Das gilt sowohl für den Amateurbereich als auch für die voruniversitäre Musikbildung.
Die instrumentale und auch solistisch-vokale Musikbildung ist daher Sache der Musikschulen, die je nach Bundesland unterschiedlich von Gemeinden, Ländern oder landesnahen Vereinen betrieben werden. So ist die eigentlich notwendige Vernetzung von Musikschulen und Schulen eine höchst problematische Sache und die bürokratischen Gräben sind in einzelnen Bundesländern, wie z.B. in der Steiermark, unüberwindbar.“[23]
Marckhl verweist in seinem Referat von 1958 auf das Engagement einzelner Lehrpersonen, durch die Kooperationen stattfinden konnten, und sieht auch nur in diesen Einzelinitiativen eine Möglichkeit der Zusammenarbeit, da sowohl Schule als auch Musikschule selbst mit grundsätzlichen Herausforderungen zu stark belastet seien: „Die allgemein bildende Schule mit der fälligen Profilierung der geistigen Grundlagen ihrer Arbeit, mit der Überwindung des stoffhäufenden Utilitarismus, die Musikschule mit ihrer gesellschaftlichen, sozialen, sachlichen Konsolidierung, beide aber mit den schweren Problemen der Gewinnung geeigneter künstlerisch-erziehlicher Persönlichkeiten.“[24]
Aktive Jugend und zukünftiges Publikum
In Artikeln der 1950er-Jahre immer wiederkehrende Erwartungen an Lehrende in Musik- wie auch in allgemein bildenden Schulen sind die Anregung der Jugend zum eigenen musikalischen Tun sowie die grundsätzliche musikalische Bildung zukünftigen Publikums.[25]
Marckhl nennt die „möglichst allgemeine und qualitativ möglichst anspruchsvolle musikalische Aktivierung der Jugend“[26] als eine der Aufgaben der Volks-Musikschule mit Verweis auf sonst eintretende Folgen wie die „Ausfallserscheinungen unserer Gegenwart, die ja lediglich die Folge von Erziehungsversäumnissen darstellen. Die Begabung im Volke ist nicht zurückgegangen.“ (350) Welche Versäumnisse und Folgen er dabei konkret meint, definiert Marckhl nicht näher. Ausfallserscheinungen im Bereich des Lehrkörpers allgemein bildender Schulen scheinen aber zumindest im Deutschland der Nachkriegszeit eine Rolle gespielt zu haben und führten dort zu einer Generation nicht singender Lehrender.
Das Singen zog sich jedoch als ein Unterrichtsinhalt durch sämtliche im Rahmen des Oral-History-Teils des Forschungsprojekt durchgeführten Interviews, an den sich die Interviewpartner zumindest im Rahmen ihrer Volksschulausbildung erinnerten und der auch vielen von ihnen in der eigenen Lehrtätigkeit wichtig war. Exemplarisch sei hier Wolf Peschl, ehemaliger Vorsitzender der AGMÖ, zitiert.
Peschl über seine Ziele im Musikunterricht
Dieses Zitat vereint mehrere bereits angesprochene Punkte, denn neben dem Klassenmusizieren, das zum eigenen aktiv werden der Schüler_innen anregte, wirkte Wolf Peschls Engagement im Bereich der Neuen Musik möglicherweise als Horizonterweiterung und Hörbildung für zukünftiges Publikum. Zudem spricht er über ein sinnvolles Verhältnis beziehungsweise eine Verknüpfung von künstlerischen und wissenschaftlichen, theoretischen Inhalten. Dennoch entsteht durch den praktisch-künstlerischen Aspekt in der Schulmusik eine Mehrbelastung von Musikpädagog_innen im Vergleich zur Lehre in anderen Fächern. Sowohl Wolf Peschl als auch Gritsch sehen daher einen Einsatz auch im zweiten Fach als empfehlenswert an.
Peschl zum Thema Mehrbelastung im Musikunterricht
Lehrende als zentrale musikalische Bezugspersonen
Im Artikel „Dreiklang der Musikerziehung (Familie – Schule – Musikschule)“ von beschreibt Anton Dawidowicz bereits 1953 einen Rückgang des häuslichen Musikzierens. Für viele sei der einzige Berührungspunkt mit Musik(-pädagogik) die Schule. „Dadurch wird der Lehrer an den Pflichtschulen zum Musikerzieher der großen Masse unseres Volkes“[27]
Während Dawidowicz noch von der Mutter als zentraler Erziehungsperson spricht – ein Bild, dass sich auch in den frühen musikalischen Erfahrungen Bernhard Gritschs widerspiegelt, der gemeinsam mit seiner Mutter Blockflöte spielte – können Familienkonzepte heute sehr unterschiedlich aussehen, was sich auch auf das Musizieren der Kinder auswirkt, wie Walter Rehorska beschreibt.
„Beide Eltern sind heute in der Regel berufstätig und deren Kinder sind häufig sich selbst überlassen. Doch nach wie vor besuchen die Kinder in der Woche nur für eine Stunde die Musikschule und in den restlichen 167 Stunden der Woche ist selten jemand da, der den Kindern in musikalischen Lernprozessen beisteht. Der Versuch, dieses Manko durch ganztägige Schulformen auszugleichen, steckt immer noch in der Phase des improvisierten Probierens, wobei das instrumental-vokale „Musik Lernen“ seitens des Staates Österreich leider unberücksichtigt bleibt. Es fehlt im Schulwesen an Raum und Zeit für Musik lernende Kinder.“[28]
Von Lehrenden scheint heute zwar nicht mehr erwartet zu werden, dass sie über den schulischen Kontext hinaus aktiv sind, gleichzeitig scheint der allgemeine Erziehungsaufwand, der ihnen übertragen wird, gestiegen zu sein. Aufgaben wie der Balance zwischen künstlerisch-praktischen und Wissensinhalten oder dem Anregen der Jugend zur eigenen musikalischen Aktivität beziehungsweise der Bildung zukünftigen Publikums werden dadurch für Lehrende an Schulen (und Musikschulen) als einzige musikalische Bezugspersonen noch verschärft.
[1] Marckhl, Erich: „Musikerziehung und musikalisches Leben. Aufgaben und Planungen Ein Bericht aus Steiermark“, in: Musikerziehung. Zeitschrift der Arbeitsgemeinschaft der Musikerzieher Österreichs 6/2 (1952/53), S. 104.
[2] Peter, Heinrich: „Das Berufsethos des Lehrers der musikalischen Bildungsfächer in unseren Schulen S. 297–299“, in: Musikerziehung. Zeitschrift der Arbeitsgemeinschaft der Musikerzieher Österreichs 6/4 (1952/53), S. 297.
[3] Peter, Heinrich: „Das Berufsethos des Lehrers der musikalischen Bildungsfächer in unseren Schulen S. 297–299“, in: Musikerziehung. Zeitschrift der Arbeitsgemeinschaft der Musikerzieher Österreichs 6/4 (1952/53), S. 299.
[4] Vgl. Dawidowicz, Anton: „Der Lehrer, Träger der Musikkultur“, in: Musikerziehung. Zeitschrift der Arbeitsgemeinschaft der Musikerzieher Österreichs 6/1 (1952/53), S. 36–38.
[5] Dawidowicz, Anton: „Die Musikerziehung in der Lehrerbildungsanstalt“, in: Musikerziehung. Zeitschrift der Arbeitsgemeinschaft der Musikerzieher Österreichs 1/2 (1947/48), S. 4.
[6] Dawidowicz, Anton: „Die Musikerziehung in der Lehrerbildungsanstalt“, in: Musikerziehung. Zeitschrift der Arbeitsgemeinschaft der Musikerzieher Österreichs 1/2 (1947/48), S. 5.
[7] Vgl. Dawidowicz, Anton: „Der Lehrer, Träger der Musikkultur“, in: Musikerziehung. Zeitschrift der Arbeitsgemeinschaft der Musikerzieher Österreichs 6/1 (1952/53), S. 36.
[8] Bachl, Hans: „Die Singschularbeit als eine Grundlage der Musikerziehung“, in: Musikerziehung. Zeitschrift der Arbeitsgemeinschaft der Musikerzieher Österreichs 13/4 (1959/60), S. 202.
[9] Bachl, Hans: „Die Singschularbeit als eine Grundlage der Musikerziehung“, in: Musikerziehung. Zeitschrift der Arbeitsgemeinschaft der Musikerzieher Österreichs 13/4 (1959/60), S. 202.
[10] Werba, Erik: „Entscheidende Kulturarbeit. Kapfenbergs städtische Volks-Musikschule“, in: Musikerziehung. Zeitschrift der Arbeitsgemeinschaft der Musikerzieher Österreichs 8/3 (1954/55), S. 159.
[11] Peter, Heinrich: „Das Berufsethos des Lehrers der musikalischen Bildungsfächer in unseren Schulen S. 297–299“, in: Musikerziehung. Zeitschrift der Arbeitsgemeinschaft der Musikerzieher Österreichs 6/4 (1952/53), S. 299.
[12] Vgl. Dawidowicz, Anton: „Der Schulmusiker – Lehrer und Erzieher“, in: Musikerziehung. Zeitschrift der Arbeitsgemeinschaft der Musikerzieher Österreichs 10/4 (1956/57), S. 176–180.
[13] Dawidowicz, Anton: „Der Schulmusiker – Lehrer und Erzieher“, in: Musikerziehung. Zeitschrift der Arbeitsgemeinschaft der Musikerzieher Österreichs 10/4 (1956/57), S. 177.
[14] Dawidowicz, Anton: „Dreiklang der Musikerziehung (Familie – Schule – Musikschule)“, in: Musikerziehung. Zeitschrift der Arbeitsgemeinschaft der Musikerzieher Österreichs 6/4 (1952/53), S. 303.
[15] Lustig-Prean, Karl: Es begann in Hirschwang… Der Musikelhrer und die Allgemeinbildung“, in: Musikerziehung. Zeitschrift der Arbeitsgemeinschaft der Musikerzieher Österreichs 11/2 (1957/58), S. 97.
[16] Schriftliches Interview mit Walter Rehorska vom 27.10.2019, S. 2–3.
[17] Dawidowicz, Anton: „Der Lehrer, Träger der Musikkultur“, in: Musikerziehung. Zeitschrift der Arbeitsgemeinschaft der Musikerzieher Österreichs 6/1 (1952/53), S. 38.
[18] Dawidowicz, Anton: „Der Lehrer, Träger der Musikkultur“, in: Musikerziehung. Zeitschrift der Arbeitsgemeinschaft der Musikerzieher Österreichs 6/1 (1952/53), S. 38.
[19] Schriftliches Interview mit Leonore Donat vom 18.07.2019, S. 2–3.
[20] Waldstein, Wilhelm: „Musiker und Musikant. Zur Frage der fachlichen Ausbildung“, in: Musikerziehung. Zeitschrift der Arbeitsgemeinschaft der Musikerzieher Österreichs 6/4 (1952/53), S. 222.
[21] Marckhl, Erich: „Bildungsaufgaben der Volks-Musikschule“, in: Musikerziehung. Zeitschrift der Arbeitsgemeinschaft der Musikerzieher Österreichs 6/4 (1952/53), S. 348–349.
[22] Marckhl, Erich: „Musikschulwesen und Organisation. Referat, gehalten im Rahmen der Tagung für Musikerzieher an Mittelschulen für die Bundesländer Burgenland, Nieder- und Oberösterreich 1958“, in: Musikerziehung. Zeitschrift der Arbeitsgemeinschaft der Musikerzieher Österreichs 12/1 (1958/59), S. 19.
[23] Schriftliches Interview mit Walter Rehorska vom 27.10.2019, S. 3.
[24] Marckhl, Erich: „Musikschulwesen und Organisation. Referat, gehalten im Rahmen der Tagung für Musikerzieher an Mittelschulen für die Bundesländer Burgenland, Nieder- und Oberösterreich 1958“, in: Musikerziehung. Zeitschrift der Arbeitsgemeinschaft der Musikerzieher Österreichs 12/1 (1958/59), S. 25.
[25] Vgl. z. B. Gassner, Hermann: „Der österreichische Privatmusikleherer“, in: Musikerziehung. Zeitschrift der Arbeitsgemeinschaft der Musikerzieher Österreichs 1/3 (1947/48), S. 11–12.
[26] Marckhl, Erich: „Bildungsaufgaben der Volks-Musikschule“, in: Musikerziehung. Zeitschrift der Arbeitsgemeinschaft der Musikerzieher Österreichs 6/4 (1952/53), S. 350.
[27] Dawidowicz, Anton: „Dreiklang der Musikerziehung (Familie – Schule – Musikschule)“, in: Musikerziehung. Zeitschrift der Arbeitsgemeinschaft der Musikerzieher Österreichs 6/4 (1952/53), S. 302.
[28] Schriftliches Interview mit Walter Rehorska vom 27.10.2019, S. 6.